Von Prof. Dr. Andreas Joh. Wiesand,
Herausgeber des "Handbuchs der Kulturpreise" und seiner Webversion www.kulturpreise.de
Vor 40 Jahren wurde vom damaligen Bundesinnenminister Gerhart Rudolf Baum das erste "Handbuch der Kulturpreise" vorgestellt – nach mehreren Druckausgaben inzwischen primär als Internet-Angebot erhältlich. Grund genug, einmal mehr über ein deutsches Phänomen nachzudenken: die gelegentlich beklagte "Preiseflut" und ihre möglichen Funktionen.
Unsere Aufgabe: Mehr Transparenz
In der Tat: Mindestens 2650 im weiteren Sinne kulturelle Auszeichnungen und andere regelmäßige individuelle Fördermaßnahmen von wenigstens regionaler Bedeutung gibt es in Deutschland (unterscheidet man z.B. nach Haupt- und Förderpreisen unter gemeinsamem Namen sind es sogar rund 4500). Da aus verschiedenen Gründen nicht alle bei kulturpreise.de erfasst werden können, manche wegen ihres eher zweifelhaften Charakters bei uns auch bewusst ausgeblendet wurden, dürfte die Gesamtzahl sogar eher bei 3000 bzw. 5000 Auszeichnungen liegen.
Trotz vieler, sehr unterschiedlich gestalteter Internetauftritte ist unsere Preiselandschaft bisher immer noch wenig transparent, was zunächst damit zu tun hat, dass sie – im Vergleich mit anderen großen Ländern – so umfangreich ist: die frühere Kleinstaaterei und vor allem ein gestärktes Selbstbewusstsein kommunaler, wirtschaftlicher und zivilgesellschaftlicher Akteure lassen grüßen. Zudem ist diese Szene immer in Bewegung: ständig gibt es neue Vergaben, werden alternative mediale Anreize gesucht oder neue Auszeichnungen gegründet. Das Handbuch der Kulturpreise und seit 2008 dessen Internetversion halten mit ihrer klaren, vergleichbaren Strukturierung dagegen: Zentrale Aufgabe des Handbuchs war es seit der ersten Ausgabe von 1978, bundesweit – und teilweise auch international – Transparenz im sehr unübersichtlichen Feld der individuellen Kulturförderung zu schaffen. Die große öffentliche Resonanz zeigt, dass diese Bemühungen nicht ganz erfolglos waren, selbst wenn bisher längst nicht alle Potenziale ausgereizt sind, z.B. noch nicht alle Preisorganisatoren die Chancen der heute so viel einfacheren Online-Aktualisierung ihrer Einträge aktiv nutzen (darunter leider auch manche, von denen man das eigentlich erwarten sollte).
Geht's nur ums liebe Geld?
Gelegentlich wird von Kritikern die Frage gestellt, ob und wem so viele Preise eigentlich nützen können. Werden nicht immer wieder die gleichen bekannten Protagonisten der Kultur- und Medienberufe mit Prämien und Ehrungen überhäuft? Und kann so viel Geld nicht vielleicht sogar Trägheit und Anpassung fördern?
Interessierte Nutzer der Internet-Präsenz des Handbuchs der Kulturpreise werden allerdings nach einer genaueren Durchsicht der dort gesammelten Auszeichnungen feststellen:
Auf der anderen Seite darf man schon fragen, ob denn Kulturpreise unter diesen Umständen überhaupt konkret zu etwas Nutze sein können. Einige aus über 40 Jahren Forschungsarbeit für das Handbuch der Kulturpreise entstandene Überlegungen sollen deshalb hier zu kurzen Antworten zusammengefasst werden.
Ein erstes Fazit: Kulturpreise haben zwar nicht in jedem Einzelfall, wohl aber insgesamt bzw. in bestimmten Sparten durchaus einen Nutzen!
A. In der breiteren Öffentlichkeit bewirken Preise:
1. Aufmerksamkeit
a) für Preisträger
Künstler, Schriftsteller und andere Kulturberufe verfügen, zumal am Beginn ihrer Berufslaufbahn, oft noch nicht über einen großen Bekanntheitsgrad. Preise, Wettbewerbe und andere herausgehobene Fördermaßnahmen können hier, auch wegen ihrer Medienresonanz, zu wichtigen Instrumenten werden, die sie zunächst in Fachkreisen und später auch in einer breiteren Öffentlichkeit bekannt machen. Im Ansatz kann so auch schon der Grundstein für ein eigenes Publikum, für Sammler, Leser oder Zuschauer gelegt werden.
b) für Stifter
Stifter und Sponsoren können durch Preise und andere sinnvoll gestaltete Fördermaßnahmen in der Öffentlichkeit sogar noch stärker wahrgenommen werden als das häufig auf der Empfängerseite der Fall ist. Das trifft vor allem dann zu, wenn die Fördermaßnahmen nicht in krassem Gegensatz zu ihrem bisherigen "Image" stehen.
c) für künstlerische, kulturpolitische oder andere inhaltliche Anliegen
Wegen der starken Personalisierung von Preisvergaben ist es umstritten, ob die inhaltlichen Anliegen dabei nicht vielleicht in den Hintergrund geraten können. Kontroversen (etwa um die gescheiterte Verleihung des Deutschen Fernsehpreises an Marcel Reich-Ranicki im Oktober 2008 oder das vernichtende Echo auf den "Echo" 2018), zeigen allerdings immer wieder, dass der Rahmen von Preisvergaben für Kritiker und starke Persönlichkeiten – ähnlich aber auch für Kulturförderer – gute Möglichkeiten bietet, inhaltliche Debatten mit viel Resonanz auszulösen.
2. Orientierung
Preise sind im Kern ein "Kommunikationsmedium": Sie wollen uns etwas über die Geförderten und ihre künstlerischen oder publizistischen Leistungen und Intentionen mitteilen, zugleich aber auch über die von Förderern und ihren Anliegen. Professionell und behutsam eingesetzt, können Preise und andere Fördermaßnahmen zu neuen Erfahrungen einladen oder motivieren. Kultureinrichtungen, z.B. Ausstellungshäuser, aber auch die Kultur- und Medienwirtschaft, z.B. Verlage oder Konzertagenturen, haben dieses Potenzial längst erkannt und nutzen es in ihren Kommunikationsbemühungen.
Natürlich darf man darüber streiten, ob nicht gelegentlich bemühte PR oder viel Show bei der als "Event" gestylten Verleihung eher vom Anliegen eines Preises oder den Zielen der Preisträger/innen ablenken. Dennoch gilt: Für Kulturinteressierte und die breitere Öffentlichkeit können gut vermittelte Auszeichnungen eine Chance sein, sich im großen kulturellen Angebot zu orientieren, gelegentlich auch die Spreu vom Weizen zu trennen.
B. Für die Kulturpolitik, für Kritiker und Medien oder für die Forschung wirken Preise als:
1. Kultur-Indikatoren
Für erfahrene Kulturpolitiker, journalistische Beobachter und Wissenschaftler erschöpfen sich Preisvergaben nicht in einer Scheckübergabe, vielmehr stehen deren symbolischen Funktionen und ihre Rolle als Indikatoren für ästhetische, kulturelle und allgemeine gesellschaftliche Prozesse und Veränderungen im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Die Ablösung der Nachkriegsgeneration von Künstlern und Autoren (aber auch von Kritikern!), die Entwicklung zu einer "Mediengesellschaft" oder das vor allem seit den 1980er Jahren erwachte Interesse an sozio-kulturellen Initiativen sind Beispiele für solche Trends, die sich oft zuerst in Preisvergaben oder -neugründungen niederschlugen. Forscher verfolgen solche Trends meist in längerfristiger Perspektive – aktuell geschieht dies z.B. im Rahmen einer Partnerschaft mit der Universität Duisburg-Essen anhand der literarischen Auszeichnungen in der Datenbank von kulturpreise.de (die dabei zugleich aktualisiert werden soll).
2. Hinweisgeber für Defizite und Fehlentwicklungen
Die Vergabepraxis vor allem bei prominenten Preisen wird in den Medien oft vergleichend kommentiert, dabei werden etwa Einseitigkeiten bzw. eine unzureichende Berücksichtigung von wichtigen Talenten moniert. Werden bestimmte kulturelle/mediale Tätigkeitsfelder auf lange Sicht bei Preisvergaben kaum oder überhaupt nicht berücksichtigt, zuletzt etwa die Arbeit von Spieleentwicklern für das Internet, bleibt dies heute nicht mehr ohne Folgen. Kulturpolitiker (darunter das BKM auf Bundesebene) und Agenturen versuchen, mit neuen Auszeichnungen Defizite auszugleichen – oder auch nur die eigenen Initiativen medial zu unterfüttern.
Die jeweils in früheren Handbüchern enthaltenen statistischen Auswertungen – sie sollen hier künftig in modifizierter Form wieder aufleben – trugen zu mehr Transparenz und zur Erkennung von Missständen bei, darunter der unzureichenden Berücksichtigung von Frauen bei Preisvergaben und in Jurys (übrigens mit der Folge einer veränderten Vergabepolitik bei Bundespreisen). Die ebenfalls im Handbuch der Kulturpreise enthaltene "Preisträger-Pyramide" deckte 2001 eine Art Vergabe-Kartell auf, durch das unversehens zwei Musikwissenschaftler an die Spitze dieser Pyramide aufrückten…
C. Bei den Empfängern bewirken Preise:
1. Förderung
a) Direkte materielle Förderung
"Nur ein Künstler, der über ein Mindestmaß an wirtschaftlicher und sozialer Sicherheit verfügt, kann seine künstlerischen Fähigkeiten voll entfalten", schrieb 1978 Bundesinnenminister Baum ins Vorwort der ersten Ausgabe des Handbuchs der Kulturpreise. Manche mögen dies vielleicht bestreiten, doch ebenso sicher ist wohl: Wer aus materiellen Gründen gezwungen ist, sich auf Dauer ganz anderen beruflichen Aktivitäten zuzuwenden, wird mindestens nach einiger Zeit die Kraft verlieren, gleichzeitig noch Höchstleistungen im künstlerischen Bereich zu vollbringen. Hier können Preise einen Freiraum schaffen und zu neuen kreativen Taten ermutigen.
b) Indirekte berufliche Förderung
Preise und andere Auszeichnungen haben ein Doppelgesicht, manche entsprechen sogar besonders gut dem sprachlichen Bild von den "zwei Seiten einer Medaille": Den Preisträgern, speziell den jüngeren unter ihnen, nützt sicher ein gut dotierter Preis; noch mehr kann ihnen aber oft die in aller Regel ja zunächst mit ihrem Namen verknüpfte Aufmerksamkeit in den Medien und in einflussreichen Kreisen des Kulturbetriebs helfen, trägt sie doch dazu bei, ihren "Marktwert" zu steigern – und eines Tages dann vielleicht auch ihr Einkommen. Bei vielen, wenn nicht den meisten Preisen wird man daher deren immaterielle Qualitäten als mindestens so wertvoll ansetzen müssen wie die finanzielle Dotierung.
2. Distinktion
a) Herausgehoben werden unter Kollegen/innen
Gelegentlich steht mit der Chance für eine Auszeichnung durch einen renommierten Stifter bzw. eine prominente Jury, in der sich teilweise eine ganze Gesellschaft verkörpern soll, für die Betroffenen eine Menge auf dem Spiel. Wird dieses Spiel allerdings gewonnen, ist die Distinktion, d.h. die Abgrenzung gegenüber den lieben Kollegen/innen wieder einmal geglückt!
b) Sicherung von gesellschaftlichem Status
Ein bestimmter Vorrat an Preisen, Ehrungen oder herausgehobenen Fördermaßnahmen ist, mindestens in der zweiten Hälfte einer Karriere, beinahe ein "muss" im Kulturbetrieb: kaum eine künstlerische Biographie, die ohne sie auskäme. Dabei kann für einen vorwiegend im regionalen Umfeld tätigen Künstler ein kommunaler Kulturpreis eine ähnliche Funktion haben wie für einen "Star" die Auszeichnung auf einem internationalen Festival, mit Händedruck der Kultur-Staatsministerin.
D. Bei den Organisatoren/Sponsoren wirken Preise durch:
1. Publizität
Publizität bringt viele Organisatoren erst dazu, einen Preis zu stiften und viel Aufwand für dessen Vergabe zu betreiben. Dieser Aufwand wird dann allerdings bei seriösen Preisen oft genug auch belohnt, es gibt immer wieder reichlich Echo in Zeitungen, im Rundfunk oder in elektronischen Medien, wobei das Individuelle der Vergabe, die in der Regel an Einzelpersonen gerichtete Auszeichnung oder Förderung, durch Vergleiche und Reminiszenzen zusätzliche Anreize für die Berichterstattung schafft, und sei es gelegentlich auch nur in negativer Hinsicht, wenn etwa ein Preis gegen den/die neue/n Preisträger/in verteidigt werden soll oder in früherer Preisherrlichkeit geschwelgt wird.
2. Symbolisches Kapital
Zum "symbolischen Kapital" (Pierre Bourdieu) können bei Preisen und anderen Auszeichnungen Faktoren wie das Renommee der Jury und die Bekanntheit oder (spätere) Erfolge früherer Preisträger beitragen, aber zum Beispiel auch die Originalität der Zielsetzung bzw. das geistige Erbe eines Namensgebers. Durch ihre Trägerschaft oder Unterstützung der Auszeichnung vermehrt sich, Publizität vorausgesetzt, bei den Stiftern oder Sponsoren das symbolische Kapital und verschafft ihnen
3. Markterschließung
Eine der bemerkenswerten Entwicklungen in der deutschen Preiselandschaft der letzten zwei Jahrzehnte ist die Nutzung von Auszeichnungen als – tatsächlich oder vermeintlich – medial besonders wirksame Marketinginstrumente. Was primär bei Architektur- und Designpreisen begann, findet sich heute in allen Sparten, bei den Medienpreisen ist es fast zur Regel geworden, auch auf Drängen mancher Sponsoren. Oft ist diese Orientierung schon an Begriffen zu erkennen, die man früher in Deutschland kaum hörte: Preise werden zu "Awards", Wettbewerbsergebnisse zum "Ranking", die Show ("And the winner is...") rückt in den Vordergrund, usw.
Keine Frage: Darüber was heute intelligente und zugleich unterhaltende Kulturvermittlung bedeutet und ob sie alle Generationen tatsächlich erreicht bzw. erreichen sollte, muss ebenfalls gestritten werden. Kann Kunst jedem gefallen, muss sie das überhaupt? Müssen sich Künstler und Autoren, Architekten oder Journalisten vielleicht den Marketingvorgaben unterordnen, wenn es vor allem um berechenbare Erfolge in der Zielgruppenansprache geht? Andererseits, ist es nicht Zeit, obsolete Rituale im Kulturbetrieb allgemein – und speziell bei Preisverleihungen – aufzulösen? Gerade durch intermediale Formate werden wir da in der nächsten Zeit noch einige Überraschungen erleben, vielleicht bis hin zu Preisträger-Abstimmungen über Handy-Apps. Die Halbwertzeit kultureller Auszeichnungen dürfte sich allerdings im neuen digitalen Wunderland weiter verringern.
Unsere Konsequenz für diese und übrigens auch alle anderen Preise, die bei www.kulturpreise.de eingetragen werden möchten: Offenheit für neue Entwicklungen und zugleich konsequente Einhaltung der Eintragskriterien, die seit 1978 die Preiselandschaft transparenter und die einzelnen Auszeichnungen besser vergleichbar gemacht haben. Nicht alle offensichtlichen "Marketingpreise" sind also in unserer Internet-Datenbank zu finden, was unter anderem damit zu tun hat, dass sie oft nicht regelmäßig vergeben werden oder dass der Charakter einer Auszeichnung für zurechenbare kulturelle Leistungen nicht wirklich nachvollziehbar ist.