Ein Axolotl-Komplott?

Zum Beitrag "Der Axolotl-Komplex" von Uwe Wittstock

DIE WELT, 17. März 2010

(J.E.) "Sollte man Plagiate mit Preisen würdigen?" und: "Geht es wirklich noch um Helene Hegemann und ihr Buch "Axolotl Roadkill"?", fragt Uwe Wittstock in einem Meinungsbeitrag der WELT der, dialektisch recht geschickt, das biedere Juristendeutsch der 'Leipziger Erklärung' zum Urheberrecht im Literaturbetrieb aufs Korn nimmt, zudem auch manche PR-Usancen der Branche (worauf aber an dieser Stelle nicht eingegangen werden soll). Hier Auszüge mit dem Kern seiner Meinung zu der "Kakophonie", die kurz vor den Verleihungsritualen zum Preis der Leipziger Buchmesse selten gekannte Dimensionen annahm.

...Das eben ist der Fluch der bösen Tat, dass sie fortzeugend immer Böses muss gebären. Übrigens: Der letzte Satz ist von Schiller, nicht von mir. Hätte ich mich jetzt einer Urheberrechtsverletzung schuldig gemacht, wenn ich das nicht gleich dazusagte? Oder ginge ein solches Zitat ohne Anführungszeichen, Fußnote und Autorenangabe noch als Beispiel einer literarischen Collage-Technik durch? Als praktizierte "copy & paste"-Ästhetik? Die "Leipziger Erklärung zum Schutze geistigen Eigentums", die jetzt zum Auftakt der Leipziger Buchmesse vom Verband deutscher Schriftsteller (VS) veröffentlicht wird, schlägt in diesem Punkt einen barschen, drakonischen Ton an: "Wenn ein Plagiat als preiswürdig erachtet wird, wenn geistiger Diebstahl und Verfälschungen als Kunst hingenommen werden, demonstriert diese Einstellung eine fahrlässige Akzeptanz von Rechtsverstößen im etablierten Literaturbetrieb. ... Kopieren ohne Einwilligung und Nennung des geistigen Schöpfers wird in der jüngeren Generation, auch aufgrund von Unkenntnis über den Wert kreativer Leistungen, gelegentlich als Kavaliersdelikt angesehen. Es ist aber eindeutig sträflich - ebenso wie die Unterstützung eines solchen 'Kunstverständnisses'."

Unter der Erklärung finden sich einige der klangvollen Namen der deutschen Gegenwartsliteratur von Günter Grass bis Christa Wolf. Nimmt man den Text wortwörtlich ernst, dann richtet er sich nicht nur gegen Helene Hegemann - die von der Jury des Preises der Leipziger Buchmesse als "preiswürdig" in Betracht gezogen wird, obwohl sie in ihrem Roman eine ganze Menge Text "ohne Einwilligung und Nennung der geistigen Schöpfer" abgeschrieben hat. Nein, in den Augen der Unterzeichner verhalten sich offenbar schon all jene "eindeutig sträflich", die sich der "Unterstützung eines solchen 'Kunstverständnisses'" schuldig machen. Das klingt fast so, als drohte der VS allen Kritikern, die Helene Hegemann bejubelten und also unterstützten, damit, sie demnächst vor Gericht zu zerren. Man fasst sich an den Kopf.

Doch ganz so einfach, wie das Leipziger Manifest tut, liegen die Dinge nicht. Nehmen wir zum Beispiel Christa Wolf, die es unterschrieben hat. Der erste Satz ihres Romans "Kindheitsmuster" aus dem Jahr 1976 lautet: "Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen." Ein wunderschöner Romanauftakt, der sofort in die Geschichte hineinzieht. Allerdings stammt er dummerweise nicht von Christa Wolf, sondern findet sich in William Faulkners Roman "Requiem für eine Nonne" aus dem Jahr 1951. In der Übersetzung von Robert Schnorr sind es zwei Sätze und sie lauten: "Die Vergangenheit ist niemals tot. Sie ist nicht einmal vergangen." Weder hat Christa Wolf den Anfangssatz ihres Romans in Anführungszeichen gesetzt, noch hat sie ihrem Buch eine Danksagung an Faulkner angefügt.

Christa Wolf eine Wegbereiterin der "copy & paste"-Ästhetik? "Kindheitsmuster" ein Plagiat? Nein, natürlich nicht. Christa Wolf hat in "Kindheitsmuster" ein uraltes literarisches Gewohnheitsrecht für sich in Anspruch genommen, nämlich das Recht, die Themen und manchmal auch die Sätze anderer Schriftsteller aufzugreifen und im eigenen Werk weiterzudenken. Die literaturhistorischen Beispiele dafür sind Legion - und es sind in der quälenden Debatte über Helene Hegemann so viele davon aufgezählt worden, dass ich mir das hier sparen kann. Mit anderen Worten: Anders als die "Leipziger Erklärung" suggeriert, kommt es nicht darauf an, ob ein Schriftsteller an fremden Töpfen nascht und "ohne Einwilligung und Nennung der geistigen Schöpfer" kopiert, sondern ob er die übernommenen Themen oder Sätze tatsächlich weiterdenkt, fortentwickelt und so in etwas Neues, Eigenes verwandelt...

Wenn die "Leipziger Erklärung" jetzt zum Beispiel "der jüngeren Generation" reichlich pauschal bescheinigt, dass sie "aufgrund von Unkenntnis über den Wert kreativer Leistung" Urheberrechtsverletzungen als "Kavaliersdelikte" ansieht, dann liefert sie damit Leuten, die sich für jung halten, eine wunderbare Vorlage, mit prächtigem rhetorischem Schwung auf Ältere und deren Kunstverständnis loszugehen...

Wittstocks Fazit wird dem in der "Leipziger Erklärung" gehuldigten "etablierten Literaturbetrieb" wahrscheinlich nicht schmecken, doch kann man ihm angesichts mancher Erfahrungen der letzten Jahre speziell - aber nicht nur - im Musikbetrieb ein gehöriges Maß an Realismus kaum absprechen: "Die Hoffnung, am Ende der Debatte ließen sich auf dem Schlachtfeld Sieger und Verlierer ausmachen, ist illusorisch".

Übrigens: Obwohl andere Kritiker - z.B. ein gewisser Axel Lottel in der Frankfurter Rundschau vom 12.2.2010 ("Gebt ihr den Preis!") - sich vehement dafür aussprachen, wurde der Preis Helene Hegemann am Ende dann doch nicht verliehen. Fürchtete man tatsächlich juristische Konsequenzen? Oder war doch alles ganz anders? Kommentar der Jury-Vorsitzenden Verena Auffermann laut dpa, kurz vor der Preisverleihung: "Die Provokation entstand eigentlich erst im Nachhinein unserer Nominierung. Wir haben das Buch am 28. Januar nominiert. Es war ein Debüt von einer jungen Frau. Wir hatten dafür unsere Gründe. Danach erst setzte sich die Lawine in Gang, mit den ganzen Vorwürfen hinlänglich bekannt - Plagiat und so weiter. Diese Lawine hat sich aber längst verselbstständigt und abgekoppelt von der Figur."

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