Autorenförderung? Hungert sie aus!

(JE) Klagen über eine (zu) große Zahl von Kultur- und vor allem Literaturpreisen in Deutschland sind nicht neu, haben das "Handbuch der Kulturpreise" seit den 70er Jahren beschäftigt. Und in der Tat: vergleicht man die hiesigen Verhältnisse mit denen anderer großer europäischer Länder, scheint die Lage eher unübersichtlich, selbst wenn man die mit den bisherigen Handbüchern geschaffene, relative Transparenz dagegen hält.
Einen - im FAZ-Net immer noch nachlesbaren - Beitrag zu diesem Thema in der
Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 30. April 2008, der in der Öffentlichkeit viel diskutiert wurden, nutzte Oliver Jungen allerdings zu einem Rundumschlag gegen das gesamte System – sowie zur Klage in eigener Sache über zu bedauernde Feuilletonisten, die sich mit dessen Ergebnissen herumschlagen müssen:

 

"Hunderte von öffentlichen und privaten Literaturpreisen sind auf die deutschsprachige Literatur niedergegangen, haben sie sanft unter sich begraben. Meldung um Meldung sendet ein Literaturredakteur in den Orbit, manchmal fünf am Tag. Sie verstopfen nicht nur den Stehsatz.

Nichts gegen große, echte Anerkennung ausdrückende Auszeichnungen wie den Büchner-, Kleist-, Breitbach-, Heine- oder Goethe-Preis, auch wenn das bereits ziemlich viele sind. Der Großteil der Literaturpreise aber ist mit lediglich fünf- bis fünfzehntausend Euro dotiert: preiswert in jedem Sinne. Weil das ungleich höhere symbolische Kapital für die auslobende Instanz bei hochtrabender Benennung sogar doppelt zu Buche schlägt, heißen die Auszeichnungen, wie sie heißen."

 

Und Jungen ist in der Tat nicht verlegen, bekannte Namen von Preisen zu nennen, die sich auch in Kulturpreise Online finden lassen und etwa Peter-Huchel, Marie-Luise-Kaschnitz, Friedrich-Hölderlin, Friedrich-Hebbel, Heinrich-Böll, Carl-von-Ossietzky, Hilde-Domin, Wolfgang-Koeppen, Adelbert-von-Chamisso, Nelly-Sachs oder Jean-Paul gewidmet sind.
Noch ungnädiger werden literarisch engagierten Festivals und Messen sowie "unzählige Regionen, Städte und Käffer" bedacht: "Je kaffiger, desto preisender" heißt es da z.B. über den Schubart-Literaturpreis der Stadt Aalen oder den Roswitha-Preis der Stadt Bad Gandersheim. Selbst private Auszeichnungen bekommen ihr Fett weg, bevor Jungen schließlich sein Zwischen-Fazit zieht:

 

"Es gibt in Deutschland mehr Preise als Schriftsteller, und die meisten werden auch noch jährlich vergeben. Das Ergebnis ist ein Wanderzirkus: Literaten auf Lorbeersammeltour durch die Republik. Die Kehrseite dieser Inflation ist die Entwertung der Währung Schriftstellerlob. Wie kam es dazu? Wie meistens: durch einen Systemfehler. Die Preisschwemme nämlich stellt nur den sicht- und meldbaren Teil einer viel gewaltigeren Subventionsverschwörung dar. Diese beruht, das ist der eigentliche Skandal, auf einer herablassenden Prämisse: Literatur gilt als Pflegefall. Man versüßt der tatterigen Tante den Lebensabend".

 

Anschließend holt der Autor die Kritikerkeule aus der Tasche und befindet, dass dieses System der Literaturförderung, diese "paradiesischen Umstände" doch wohl nicht anders als "maßlos" genannt werden dürfen, denn schließlich sei keineswegs eine "ungekannte Blüte" der Literatur entstanden, vielmehr, im Gegenteil, vor allem "Verschnarchtheit", "viel Historisches und Unentschiedenes", gepaart mit "Impressionismus und Selbstbeschau".  Warum dies so kommen musste, ist für ihn sonnenklar:

 

"Weil ein Hindernis jeden Zug ins Große verhindert: die Subventionsmaschinerie selbst. Zutraulich geworden durch regelmäßige Fütterung, scheint der Literatur sogar das Bewusstsein dafür abhanden gekommen zu sein, dass ihre innere Natur nicht die des Haustiers ist, sondern die der Bestie…

Nur notwendige Literatur ist große Literatur. Nur das, was ohne alle Rücksicht geschrieben werden muss, schreibt sich ein in den Lauf der Geschichte. Natürlich steht dem die heilige Kunstautonomie entgegen. "L'art pour l'art" aber gilt entweder ganz oder gar nicht: Kunst als Solipsismus oder Instrument, Ars meditativa oder Ars militans. Genau da, wo Gefahr ist, wächst bekanntlich das Rettende auch. Aus den dunkelsten Epochen leuchten uns die überragendsten Dichtungen entgegen; im Finstern wohnen die Adler. Nichts spricht gegen die historische Einkleidung des Gedankens, aber gefährlich aktuell muss er sein, dieser Gedanke, soll kein Stillleben entstehen…"

 

Emphatisch ruft Jungen aus: "Kunst hat ein Recht auf Gegner" und will den Staat und die ganze Gesellschaft in diese Gegnerschaft zwingen. Deren "vorauseilende Umarmung" sei doch eher eine Beleidigung für Revolutionäre oder wenigstens Bohemiens:

 

"Als traute man der Literatur einen aufrührerischen Gedanken gar nicht mehr zu, als sei sie so tot wie Steinkohle. Dabei ist Literatur, schon weil sie Kommunikation ist, eminent politisch: das der Realität gefährlich werdende Gegenteil ihrer selbst, das, was es nicht geben kann, das richtig Falsche im falsch Richtigen. Was sie aber absolut niemals ist: unschuldig. Unerklärlich, warum sie heute unentwegt mit den Augen rollt und kindlich tut. Unerklärlich auch, warum sie in allen wichtigen Fragen der Wissenschaft das Feld überlässt. Warum hat sie keine Meinung?

Natürlich kann niemand im Ernst die Zensur zurücksehnen, aber etwas weniger kunstselige Duselei wäre an der Zeit. Schließlich ist das Ziel der Literatur entgegen verbreiteter Ansicht weder die Adelung zum Hörbuch noch die Leseandacht im örtlichen Literaturhaus. Noch würdeloser wirkt allerdings der Dressurtanz im Preiszirkus. Gibt es einen Filter für große Literatur? Dass sich Schriftsteller auf eigene Verantwortung durchs Leben schlagen, wäre ein Anfang; Kafka jedenfalls hat es nicht geschadet."

 

Das erinnert vertrackt an die Sehnsucht nach vordemokratischen Zeiten, wie sie einst auch Rolf Hochhut ("Banausenrepublik Deutschland", DIE ZEIT vom 25.10.1985) umtrieb – nur dass dieser bei seiner Demokratieschelte, soweit es die öffentliche Förderung der Künste angeht, zum gegenteiligen Ergebnis kam wie Jungen heute: "Was immer man der Demokratie nachsagen kann: die Kunst hat sie meist kleingemacht, verfolgt.”

 

Oliver Jungen macht dagegen zuvörderst die Schriftsteller selbst für das, aus seiner Sicht, aktuelle künstlerische Debakel verantwortlich und beschwört in seinem romantisierenden Furor Spitzweg mit der vermeintlichen Herrlichkeit des "Armen Poeten" wieder herauf – offensichtlich sind ihm die realen Bedingungen des Dichtens und Denkens im 18, und 19. Jahrhundert, dessen meist enge Verflechtung mit Adel und Großbürgertum, nicht wirklich geläufig:

 

"Künstler, Staat und Publikum, diese drei, damals wie heute: Sie lieben die Kunst in den Ruin. Wenn der Literatur nutzt, was den Schriftstellern schadet, dann, liebe Förderfunktionäre und kuchenverdrückendes Literaturhauspublikum: Schadet den Schriftstellern! Hungert sie aus! Macht sie wütend! Was entsteht, wenn unsere brillantesten Autoren auf ihre Worte zurückgeworfen sind, wenn sie Sätze, Bücher, Plots als Waffen im Diskurskrieg begreifen, wenn sie gegen die kaum weniger gewordenen Verlogenheiten des heutigen Staates anschreiben, ungebunden, ungesichert, im Geist des Partisanen - was dann entsteht, das ist es, was wir lesen wollen und was das Zeug hat, die Zeiten zu überdauern. Der Schriftsteller als spürbares Gegengewicht, nicht als Pokalentsorgungscontainer an der Autobahn nach Bad Gandersheim.

Angriff also, nicht Verteidigung: Prometheus ist schließlich Dichters Pate, nicht Epimetheus, der Übertölpelte. Die Literatur weiß das natürlich alles selbst am besten. Einer der sprachgewaltigen literarischen (und medizinischen) Nachfahren Döblins hat in seiner wuterfülltesten Zeit das Heftigkeitsprogramm gepredigt: 'Lieber geil angreifen, kühn totalitär kämpferisch und lustig, so muss geschrieben werden, so wie der heftig denkende Mensch lebt.' Inzwischen hat auch Rainald Goetz einige Preise im Schrank und seine Wut ordentlich rückwärts ins Tagebuch eingeparkt. Tigert heftig durch Belanglosigkeiten, Käfigkoller. Aber er schläft bloß, wie so viele andere auch. Das erste Magenknurren weckt sie auf."

 

Vorschlag zur Güte: Niedriger hängen! Oder vielleicht besser, aus dem Wolkenkuckucksheim heruntersteigen und nachdenken. Letzteres hat übrigens Hans-Magnus Enzensberger aus ähnlichem Anlass schon zu einem Zeitpunkt vorgemacht, als Oliver Jungen vermutlich noch in die Grundschule ging. In einem Interview des SPIEGEL (Nr. 4/1987) kommt er, den man kaum der Duckmäuserei bezichtigen kann, jedenfalls zu ganz anderen Schlüssen über die Kriegerrolle der Schriftsteller :

 

"Wenn das Gehirn der Gesellschaft nicht mehr lokalisierbar ist, dann ist auch die intellektuelle Produktivität nicht mehr bei einer sozialen Untergruppe wie den Professoren, den Schriftstellern, den Intellektuellen zu lokalisieren…
Eine Person wie Böll war ja kein historischer Zufall. Böll war die Gegenfigur zu Adenauer. Die Gesellschaft hat damals solche Erscheinungen benötigt und hervorgebracht: Autorität und Gegenautorität. Daß solche Figuren heute nicht mehr vorhanden sind, muß nicht unbedingt an Talentmangel liegen oder Charakterlosigkeit. Vielleicht liegt es daran, daß sie in gewisser Weise überflüssig geworden sind. Ich glaube, es ist eine Vergesellschaftung solcher Rollen eingetreten. Wir haben Böll verloren. Aber dafür haben wir Amnesty und Greenpeace..."

 

 

Auszüge aus Lesermeinungen zum Beitrag von Oliver Jungen:

 

Peter Jüde (pitterle1999):
Jungen behauptet, es gäbe zu viele Literaturpreise und beklagt "Es gibt in Deutschland mehr Preise als Schriftsteller." Was für eine Beleidigung der Schriftstellerinnen und Schriftsteller. Geschätzte 80 Prozent der Menschen, die sich als Schriftsteller verstehen, enthebt Jungen mit einem Satz ihres Berufs. Jungen hält darüber hinaus die deutsche Gegenwartsliteratur für belanglos und unterstellt, dass die Literatur immer noch meinungslos und unpolitisch sei. Ich sehe das etwas anders, aber diese Meinung sei Herrn Jungen zugestanden. Nur Jungens Argumentation ist grotesk. Jungen schreibt sein Pamphlet vom hohen Ross dessen, der vermutlich ganz gut lebt im und vom Literaturbetrieb… Gut, dann keine Literaturförderung mehr. Aber nur wenn Herr Jungen auf die Honorare für seine Artikel verzichtet. Mehr unter http://schreiberfahrungen.blog.de.

 

Markus Bräuer (Susanne31):
Vorschlag zur Güte: Herr Jungen probiert das Hungern mal aus. Nein, nicht einen oder zwei Tage, sagen wir: drei Wochen. Wasser und ein wenig trocken Brot. Das drei Wochen lang. Danach würde ich gern wissen, ob er seine Forderung nach Aushungern der Literatur aufrecht erhält. (Falls ja, ist er ein Fall für die Psychiatrie, falls nein, hätte er sich das Experiment sparen können, wenn der Artikel unterblieben wäre.) Meine lieben FAZ-Redakteure, entweder geht es Ihnen gar zu gut oder es gibt ein eklatantes Erlebnisdefizit, einen worterzeugenden horror vacui, der Lebensarmut den Literaten in die Schuhe schiebt…

 

Annette Lotz (Anlo):
Der Fehler in der Literaturförderung besteht darin, daß es zu wenig Nachwuchspreise für unbekannte Autoren gibt. Und denen wird dann ein Thema vorgegeben, was mehr als zahm ist und wo man sich durchaus fragen kann, wie es um Adornos These mit der Mimikry der Kunst und der Wahrheit der Kunst überhaupt bestellt ist, denn die meisten dieser Themenstellungen liegen völlig fern davon. Die meisten Literaturpreise jedoch fördern Autoren, die bereits bekannt sind, einen Verlag haben und schon eine gut bestückte Literaturliste vorweisen können...

 

Johannes Cuntius (sling_blade):
Ein schöner, wichtiger Artikel. Das alles gilt jedoch nicht nur für die Literatur, sondern für die gesamte bundesdeutsche Kultur. Film, bildende Kunst, Theater, Oper: alles hängt – via Förderung, und darunter fallen eben auch die Preise – letztlich am Gängelband des Staates, weshalb die Kultur insgesamt brav, angepasst und verschnarcht, wo nicht gar zurückgeblieben ist… Die Kultur ist saturiert, zu Tode gefördert – und produziert folglich auch nur das, was als genehm, förderungs- und eben preiswürdig erachtet wird. Und da beißt sich die Katze in den Schwanz. Also: weg damit!...

 

Worst Case (exil_am_strand):
„Warum aber erlebt die Literatur unter diesen paradiesischen Umständen keine ungekannte Blüte? Warum im Gegenteil diese Verschnarchtheit?” Weil unverschnarchte Literatur heutzutage politisch inkorrekt sein muß. Und genau solche Literatur verfällt sofort der Ächtung. Sie würde aber, wie Jungen es möchte, preislos bleiben! Das liegt eben auch daran, daß Verleger und Lektoren die Hosen gestrichen voll haben. „Nur das, was ohne alle Rücksicht geschrieben werden muss, schreibt sich ein in den Lauf der Geschichte”, schreibt Jungen. Recht so. Aber es wird nicht verlegt...

Tobias Kiwitt (Bundesverband junger Autoren und Autorinnen):
…Man mag verschiedener Auffassung über die Art und Weise von Literaturförderung sein, aber eines ist doch unstreitig: Literaturförderung ist neben Autorenförderung zugleich auch Kulturförderung für eine lebendige und lebenswerte Gesellschaft. Wenn wir von einer mitnichten zu starken Literaturförderung sprechen, sei zurückgefragt: Wo bleibt denn der verlegerische Mut von Verlagen für junge, aufstrebende deutschsprachige Literatur? Bohlens, Pooths und neuerdings Roches machen sich auf den Bestsellerlisten breit, und Bestseller werden aus dem Amerikanischen "importiert"…  Wir brachen Verleger, die noch den Mut aufbringen, zu einem literarischen Debütanten zu stehen…

Dr. Theodor Pelster (Mitglied der Jury des Niederrheinischen Literaturpreises):
…eine sehr eigenwillige und sehr enge Auffassung von dem, was Literatur und was Poeten zu leisten haben. Literatur, so formuliert Jungen, habe "Bestie", habe "wirksam", habe "aktuell" zu sein, sei nur anzuerkennen, sofern sie "ars militans" sei. Dagegengestellt sei die über Jahrhunderte tradierte Maxime eines Horaz, der Dichter habe zu nützen, aber auch zu erfreuen – "aut prodessevolunt aut delectare poetae" (Horaz: Poetik 333)…
Selbst heutige Großschriftsteller waren am Anfang ihres Weges für existenzsichernde Preisgelder dankbar. Wichtiger als der überreichte Scheck ist (aber) die Aufmerksamkeit, die der Autor durch eine Auszeichnung in der Öffentlichkeit, durch anschließende Lesungen und durch nachfolgende Berichte in den Medien erhält Wer nach kräftezehrenden Bemühungen endlich einen Verlag gefunden hat, hat nämlich nicht automatisch ein Lesepublikum…  Deshalb ist der abwertende Blick auf die "Städte und Käffer", die sich um Literaturförderung bemühen, ärgerlich. Literarisches Leben gibt es nicht nur in den Hauptstädten dieser Welt, sondern genauso in der Region…

 

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