Die Preiselandschaft als "Korrektiv" des Marktes
Dr. Hubert Winkels ist Leiter der Literaturredaktion des Deutschlandfunk und darüber hinaus einer der prominentesten Literatur-Juroren in Deutschland. Er war selbst Autor, bevor er sich der Kritik zuwandte. Neben seiner literarischen Tätigkeit veröffentlichte eine Reihe von Büchern über Literatur und Medien. 2010 erschien „Kann man Bücher lieben? Vom Umgang mit neuer Literatur“, in dem er auch über die Jurytätigkeit reflektiert.
1997 gelang es ihm, eine Kooperation des Deutschlandradios mit der Stadt Braunschweig zu organisieren, um den länger ausgesetzten Wilhelm Raabe-Literaturpreis neu zu begründen und das Preisgeld auf 30.000 € zu erhöhen. Inzwischen ist dieser Preis, zu dem Hubert Winkels jeweils eine Publikation herausgibt, einer der wichtigsten deutschen Literaturpreise. Hubert Winkels ist seit 2010 Juror beim Ingeborg Bachmann-Preis in Klagenfurt, seit 2015 dort der Vorsitzende. Regina Wyrwoll hat ihn in seinem Redaktionsbüro im 14. Stock der Deutschlandfunk-Zentrale in Köln besucht.
Wyrwoll: Herr Dr. Winkels, können Sie uns sagen, an wie vielen Jurysitzungen Sie jährlich teilnehmen?
Winkels: Das wechselt immer wieder, weil ja Jurys oft nach zwei oder drei Jahren ausgetauscht werden, aber so etwa sechs Jurysitzungen habe ich im Jahr, davon drei oder vier als feste jährliche Verpflichtungen: den Wilhelm Raabe-Preis, den Ingeborg-Bachmann-Preis, den Düsseldorfer Literaturpreis und den Erich-Maria-Remarque-Friedenpreis.
Wyrwoll: Gibt es eine Dynamik, die Jurysitzungen eigen ist?
Winkels: Das ist schwer zu beantworten, weil es immer auf die jeweilige Konstellation und auf die Zusammensetzung der Jurys ankommt. Wenn zum Beispiel an einer Jury drei Leute von der Stadt beteiligt sind, von Fraktionen oder vom Kulturausschuss, dann ist das eine völlig andere Situation, als wenn nur Fachleute, also Literaturkritiker, zusammen sitzen. Meine Präferenz sind natürlich Fachjurys. Aber hier muss man unterscheiden zwischen öffentlichen Jurys wie zum Beispiel beim Bachmannpreis, dem Open Mike oder dem Bayerischen Literaturpreis oder aber den vielen anderen, die hinter verschlossenen Türen tagen. In einer öffentlichen Diskussion ist man viel mehr dem eigenen Argument verpflichtet als in einer kleinen informellen Runde, wo man sagen kann, ach, dieses Argument finde ich aber jetzt doch wichtiger, dann kann man umsatteln und in eine andere Richtung gehen. In einer Fachjury hinter verschlossenen Türen ergeben sich durchaus bestimmte Dynamiken, die etwas Kurioses haben: man beginnt vorsichtig, man versucht, den eigenen Kandidaten, sofern man einen hat, vorsichtig ins Spiel zu bringen, und man versucht, seine Chancen zu ermitteln. Jedenfalls tut man alles, um den eigenen Kandidaten nicht zu schnell zu "verbrennen". Das gelingt natürlich guten Strategen besser als spontan engagiert debattierenden Menschen wie mich. Dann gibt es aber auch Juroren, die andere so mitreißen, dass sie ans Ziel kommen, eben weil sie die Zustimmung geradezu erzwingen. Und natürlich gibt es auch die ruhigen, von denen man annimmt, dass sie besonders gut nachgedacht haben und die dann spät noch einen Punkt machen. Schließlich spielt oft auch der Zeitfaktor und die Erschöpfung eine entscheidende Rolle: Plötzlich muss man eine Entscheidung in ganz kurzer Zeit herbeiführen und stößt möglicherweise um, was man in langer Diskussion vorher entwickelt hat.
Wyrwoll: Gibt es auch so etwas wie political correctness in Jurys?
Winkels: Durchaus. Es gibt so ein juste milieu der Literaturkritik, das von einer kulturfrommen Haltung getragen ist oder einem Elitismus, in dem bestimmte Autoren mit einem schlechten Ruf oder bestimmte Themen per se nicht vorkommen dürfen. Da verkämpfe ich mich dann oft. 2012 habe ich zum Beispiel monatelang schweren Krach gehabt bei dem Versuch, den damals wenig geschätzten Christian Kracht mit „Imperium“ durchzusetzen. Später im Jahr allerdings konnten wir ihm in einer großen Jury den Wilhelm Raabe-Preis verleihen, und ich habe ein Buch gegen diese zum Teil auch erschreckenden Fehlurteilen der Kritiker herausgegeben.
Wyrwoll: Was für ein Verhältnis haben Juroren eigentlich zu den Lesern der Bücher?
Winkels: Eigentlich muss ich die Allgemeinheit dieser Frage zurückweisen, denn das kann man nicht für alle Jurys gleichermaßen beantworten. Grundsätzlich ist es aber so, dass das große Lesepublikum über den Markt sortiert wird. Wer ein Buch kauft, hat ja schon in den Verkaufszahlen seine Spur hinterlassen. Der Markt ist ja nicht abhängig von Juryentscheidungen. Vornehm ausgedrückt: die Preiselandschaft ist das Korrektiv dazu, nicht vornehm formuliert: sie ist der Gegner des Marktes. Ich zeichne ja Bücher aus, von denen ich glaube, dass sie es auf dem Markt deshalb schwer haben, weil sie die Bedingungen ihrer eigenen Verfasstheit reflektieren. Das macht große Literatur aus, nicht immer explizit, aber dass sie doch erkennbar damit spielt. Das ist aber bei der meistverkauften Ware in den Buchhandlungen nicht der Fall, also tun wir Kritiker/Juroren etwas, was an diesem Marktzustand etwas ändert. Das heißt also, dass wir uns mehr an ästhetischen Standards orientieren, die wir miteinander teilen, als an den Lesern. Das ist natürlich anders, wenn in den Jurys z.B. Stadtpolitiker sitzen. Als ich vor etwa 30 Jahren mit der Jurytätigkeit angefangen habe, war das übrigens noch anders. Inzwischen ist der Mut gewachsen zu sagen: "Wir dürfen das nicht zu abgehoben machen, der leseinteressierte Laie muss dazu Zugang haben". Das zu fordern empfinde ich inzwischen als Dreistigkeit.
Wyrwoll: Als Kritiker kann man sich mit vielen oder aber mit wenigen Autoren intensiv beschäftigen. Wie halten Sie das?
Winkels: Das ist eine grundsätzliche Frage, die weniger mit Preisen zu tun hat. Ich habe immer versucht, mich nicht mit zu vielen Schriftstellern oder Poeten zu beschäftigen – anders als die meisten meiner Kollegen. Lieber lese ich ein Buch zweimal, über das ich dann etwas mache, als die nächsten drei der Saison auch noch im Schnelldurchlauf zu lesen. Ich bin dafür, mich zu konzentrieren, weil ich dann in der Tiefe vieles entdecke, was ich dann anderswo wieder finde, vor allem auch in die Geschichte der Literatur; das sind rhizomatische Verhältnisse unter der Oberfläche. Irgendwann begegnen Sie auf diesem Lese-Weg unweigerlich Shakespeare oder Novalis. Das ist ein schöner Prozess. Da hat die geschriebene Literaturkritik natürlich einen Vorteil gegenüber Preisjuroren. Sie ist formulierungsgenau und also langsam.
Wyrwoll: Sie haben 1997 den Wilhelm Raabe-Preis neu konzipiert. Was war damals Ihre Motivation und wie schauen Sie heute darauf zurück?
Winkels: Ich hatte gerade beim Deutschlandfunk als Redakteur angefangen und dachte, man könne den Einfluss des Senders nutzen, um einen guten Preis zu stiften. Siehe da, die Leute von der Stadt Braunschweig waren begeistert. Über die Jahre ist er einer der zehn wichtigsten Preise in Deutschland geworden, da kann man sich doch nur freuen! Das hat weniger mit der Höhe des Preisgeldes oder den Stiftern zu tun als mit den Künstlern, die den Preis bekommen haben. Wir sind eher antizyklisch vorgegangen: wir haben eben nicht diejenigen ausgezeichnet, die sowieso schon Preise bekommen hatten, was leider zu oft gern getan wird, um sich selbst als Institution oder als Preis mit guten Autorennamen aufzuwerten. Wir haben z.B. Außenseiter ausgezeichnet, von denen klar war, dass sie dies nicht bleiben würden, weil sie zu gut sind, also früh 'kanonisch' würden. Preise haben ja auch die Funktion so eine Art zeitgemäßen Kanon zu erschaffen, das kann man am Raabe-Preis ganz gut verfolgen. Der erste Preisträger im Jahr 2000 war Rainald Goetz mit seinem Blog/Kompendium "Abfall für alle", der damals erstmal düpiert war, dass er einen solchen traditionell klingenden Preis bekam. Dann hatten wir Wolf Haas, eine Ausnahmeerscheinung zu diesem Zeitpunkt oder, wie gesagt, Christian Kracht. Dieses Jahr zeichnen wir Heinz Strunk aus, bekannt als Comedian und Musiker, als literarischen Autor nimmt man ihn bis dato noch nicht so richtig ernst. Das wird sich nun vielleicht ändern. Auf diese unorthodoxe Reihe bin ich eigentlich ganz stolz, alle gehören inzwischen zu den anerkannten Autoren.
Wyrwoll: Was meinen Sie damit, dass Preise einen Kanon erzeugen?
Winkels: Das ist für mich der starke Sinn von Preisen überhaupt. Preise sind auf verschiedene Weise von Nutzen. Es ist eigentlich ein Missbrauch des Begriffs Kanon, der im Prinzip zeitübergreifend gemeint ist. Aber natürlich sind heute auch manche Fernsehsendungen in gewisser Weise kanonisch. In diesem etwas milderen Sinn arbeiten Preise hochgradig mit an der Erzeugung dessen, was man im Allgemeinen für gute Literatur hält. Literaturpreise haben in diesem Prozess zum Beispiel die Literaturkritik in Zeitungen überflügelt. Das können Sie daran erkennen, wie sehr sich Zeitungen in ihrer publizistischen Tätigkeit im Herbst oder Frühjahr am Deutschen Buchpreis oder dem Preis der Leipziger Buchmesse orientieren. Preise sind einflussreicher geworden. Das hat damit zu tun, dass viele Juroren gleichzeitig Kritiker in den bekannteren Medien sind, und es kommen Geld, unmittelbare Anerkennung und öffentliches Gewese dazu. Mit anderen Worten: die Standards sind dieselben, es gibt aber mehr Lärm.
Wyrwoll: Danke für dieses Gespräch