Ein Netz von über 1.000 Stipendiaten weltweit

Akademie Schloss Solitude: Regina Wyrwoll im Gespräch mit Jean-Baptiste Joly

Seit über 20 Jahren ist die Akademie Schloss Solitude, gelegen in arkadischer Landschaft hoch über Stuttgart, ein Anziehungspunkt für junge Künstler aus aller Welt, neuerdings auch für Stipendiaten anderer Disziplinen. Mit dem – seit der Gründung amtierenden – Direktor der Akademie, Jean-Baptiste Joly, führte Regina Wyrwoll im Februar 2012 für www.kulturpreise.de das folgende Interview:

 

Kulturpreise: Herr Joly, der Eintrag für die Akademie Solitude auf unserem Portal war in den letzten Monaten die von den Nutzern am häufigsten aufgerufene Auszeichnung. Können Sie uns dieses Phänomens erklären?

Jean-Baptiste Joly: Das wusste ich gar nicht und es freut mich natürlich ungemein. Als erstes würde ich sagen, dass der Ruf der Akademie Schloss Solitude sehr viel mit dem zusammenhängt, was ehemalige Stipendiaten über uns sagen. Die Botschaft der Ehemaligen ist in den meisten Fällen positiv bis überschwänglich und vor allem glaubwürdig, weil sie nicht von uns selbst kommt, sondern von Künstlerinnen und Künstlern, die es an ihre Kollegen weitergeben. Es gibt auch einen zweiten Grund: Von den renommierten Künstlerprogrammen in Deutschland sind wir das einzige, das allen die Möglichkeit gibt, sich frei zu bewerben. Das macht uns natürlich auch sehr attraktiv, denn bei anderen Programmen muss man oft über ein Komitee vorgeschlagen werden. Außerhalb Deutschlands sind wir in den jeweiligen Kunstszenen auch wohl bekannt. Bei der letzten Bewerbungsrunde haben sich 4.000 Menschen aus 135 Ländern für das Solitude-Stipendium interessiert. Schließlich haben sich 1.800 beworben. Daraus wurden die 65 Stipendiaten der Jahre 2011 bis 2013 ausgesucht.

Kulturpreise: Sie sind der Gründungsdirektor der Akademie Solitude und bis heute im Amt. Nach Ihrem Konzept wurde die Akademie vom damaligen Ministerpräsidenten des Landes Baden-Württemberg, Lothar Späth, als Stiftung öffentlichen Rechts gegründet. Was hat sich seitdem nicht geändert?

JBJ: Es hat sich tatsächlich in den 22 Jahren viel verändert. Was aber gleich geblieben ist: Wir sind immer noch im Schloss Solitude untergebracht, vom ursprünglichen zehnköpfigen Team sind immer noch drei dabei, die anderen sind meist altersbedingt ausgeschieden, dafür sind junge engagierte Kolleginnen und Kollegen dazu gekommen, die zur Generation der Stipendiaten gehören. Was sich nicht geändert hat und nach wie vor die Kernaussage der Akademie an die Künstler ausmacht: Die Zeit, die die Stipendiaten auf Solitude verbringen, gehört ihnen und nicht der Institution; d.h. die Gäste der Akademie bestimmen selbst, was für sie Priorität hat und was nebensächlich ist. Die vielen Angebote der Akademie an ihre Künstler sind Anregungen und nicht Anweisungen, sich an Projekten zu beteiligen.
In der Zwischenzeit steht die Akademie inmitten eines riesigen Netzwerkes von über 1.000 ehemaligen Stipendiaten aus der ganzen Welt, die immer wieder in die Aktivitäten der Akademie integriert werden. Dieses macht den eigentlichen Wert der Arbeit der Akademie aus. Zentral ist nach wie vor das Auswahlsystem mit einem Juror für jede Kunstsparte, der jedes Mal neu bestellt wird, wenn neue Stipendiaten im Zweijahres Rhythmus ausgesucht werden. Dieses singuläre Auswahlverfahren, das die Akademie von anderen Künstlerhäusern unterscheidet, betrifft aber nicht mehr 100% der vergebenen Stipendien sondern nur noch ca. 65%. Bedingt durch neue Kooperations- und Finanzierungsmöglichkeiten ist in all den Jahren eine Fülle an neuen Programmen entstanden, die die Fördermaßnahmen der Akademie sinnvoll ergänzen: u.a. Stipendium für Kunstkoordination, Marie-Zimmermann-Stipendium für junge Dramatiker, Stipendium für Schriftsteller in Not, Schader-Stipendium für Sozialwissenschaftler oder demnächst ein neues Stipendium für junge Filmemacher in Kooperation mit der Filmförderung MFG Baden-Württemberg. Ganz wichtig in diesem Dispositiv sind auch unsere Partner in Osteuropa, junge NGOs, die mit unserer Hilfe eigene Studioprogramme gegründet haben und mit uns kooperieren. 

Kulturpreise: Nach außen hin ist wohl die größte Neuerung das art, science & business Programm. Dahinter verbirgt sich ein weitreichender Anspruch, den man, zumindest teilweise, auch unter Kulturelle Bildung fassen könnte?

JBJ: Das Programm art, science & business, das 2002 gegründet wurde, ergab sich aus der Erfahrung der ersten Jahre: Die Akademie wollte von Anfang an nicht nur ein Ort der Künstlerförderung und der Produktion von Kunst sein. Reflexivität und Interdisziplinarität waren immer Teil unserer Bemühungen. Es war deshalb nur konsequent, ein Programm zu gründen, das den Dialog zwischen Kunst, Wissenschaft und Wirtschaft fördert. Alle zwei Jahre gibt die Akademie in Absprache mit dem Juryvorsitzenden ein Thema vor, von dem wir meinen, dass es für Künstler, Wissenschaftler oder Wirtschaftsleute relevant sein und eine fruchtbare Zusammenarbeit ermöglichen könnte. Nach Themen wie "Fetisch und Konsum, oder "das Handeln mit der Angst" lautet unser jetziges Thema "Reden über Arbeit". Das, was heutzutage Arbeit ausmacht, ist eher immaterieller als materieller Natur und im Sinne einer industriellen Gesellschaft nicht mehr unmittelbar produktiv. Aber unsere Bilder der Arbeit sind die gleichen geblieben: Es ist stets die physische Arbeit, verkörpert durch den Arbeiter am Fließband, die als Bild dominiert. Wie neue Formen der Arbeit charakterisieren, mit welchen Bildern sie veranschaulichen, wie davon erzählen? Das sind die Fragen, die Stipendiaten und Gäste aus Kunst, Musik, Literatur, Theater und nicht zuletzt aus den Geistes- Wirtschafts- und Rechtswissenschaften gemeinsam angehen und diskutieren. Die Ergebnisse davon sind noch offen; es können am Ende ebenso Performances, Vorträge, Bilder, Filme wie auch Publikationen diesen Prozess veranschaulichen.

Mit diesem Programm versuchen wir die gängigen Kommunikationswege des klassischen Kulturbetriebs zu erneuern. Die Akademie interessiert sich weniger für den stummen Konzertbesucher in der Menge, eher für die aktive Teilnahme einiger wenigen Beteiligten und setzt sich für die Aufhebung der Unterscheidung zwischen aktiven Künstlern auf der Bühne und dem passiven Publikum im Zuschauerraum. Diesen Anspruch betrachten wir als einen wichtigen Aspekt der kulturellen Bildung von morgen. Das Gleiche tun wir auch übrigens mit den Kindern einer Grundschule in unserer Nähe. Zwei bis viermal im Jahr gestalten wir mit Künstlern und Lehrkräften mehrtägige thematisch organisierte Workshops, bei denen Kunst als Trägerin von pädagogischen Inhalten benutzt wird.

Kulturpreise: Die Akademie Solitude hat also wachsam und flexibel auf die gesellschaftspolitische Notwendigkeit von Künstlerförderung reagiert. Daher eine letzte Frage: Kann eine solche Einrichtung auch Einfluss auf das Künstler(selbst)bild nehmen, vielleicht sogar darauf, wie und auf welche Weise sich Künstler mit dieser Gesellschaft auseinandersetzen (sollen)?

JBJ: Dazu sollten Sie eher die Stipendiaten befragen, die an den Aktivitäten der Akademie teilgenommen haben. Aber es ist tatsächlich unser Anspruch und unsere Hoffnung! 

 

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