Nach spekulativen Angriffen auf die Menschenwürde verhallt der ECHO
(ajw) Wirkungen und potenzielle Nebenwirkungen der zunehmenden Eventisierung und Marktorientierung von Kulturpreisen für deren Organisatoren, für ihre jeweilige Branche und letztlich auch für die Empfänger von Auszeichnungen waren hier schon öfter ein Thema. Die ECHO Pop-Verleihung 2018 an Kollegah und Farid Bang wäre ohne den schon im Voraus geschürten Medienhype zwar nicht unbemerkt, aber vielleicht doch ohne die skandalträchtige Beschädigung der Veranstalter und sogar einer ganzen Branche über die Bühne gegangen.
Aber in diesem Fall war das wohl ein heilsamer Schock: Der Bundesverband Musikindustrie hat nach anhaltenden Protesten in Deutschland und international sowie einer Flut von prominenten Preisrückgaben in einer Vorstandssitzung am 24. April 2018 die Reißleine gezogen und den ECHO kurzerhand eingestellt – nicht ohne den Hinweis, es habe sich hier um einen "großartigen Preis" und "zugleich zentrales Branchenevent" gehandelt. Andererseits wolle man "keinesfalls, dass dieser Musikpreis als Plattform für Antisemitismus, Frauenverachtung, Homophobie oder Gewaltverharmlosung wahrgenommen" werde (die Texte der ausgezeichneten Rapper hatten dafür durchaus Anlass geboten). Die Einstellung trifft auch die beiden besser beleumundeten – weil nicht nur auf Verkaufserfolgen basierenden – Spartenpreise ECHO Classic und ECHO Jazz. Der musikexpress hatte die "Farce" schon länger erkannt und schrieb im Vorfeld der Verleihung am 12. April unter der Titelzeile ES GEHT GAR NICHT UM DIE MUSIK: "Die Majors schicken ihre Schachfiguren voran, die können schlecht 'nein' sagen, wenn sie weiter mitspielen wollen. Dass es bekanntlich um Qualität nicht geht beim ECHO, wird zwar jedes Jahr aufs Neue schmerzlich bewusst, 2018 aber besonders."
Der Bundesverband hätte also gewarnt sein können: Es gab in Deutschland kaum einen Preis, dessen Organisation und Vermarktungsstrategie so häufig und so vehement kritisiert wurde wie der ECHO. Der Streit um die Ein- und Ausladungen der Südtiroler Deutschrockband Frei.Wild (bekannt durch Blut und Boden Texte) oder das Spottlied Menschen Leben Tanzen Welt von Jan Böhmermann sind zwei der bekanntesten Beispiele. Weil es beim ECHO Pop nur ums Marketing und nicht wirklich um eine Auszeichnung künstlerischer Leistungen ging, daher die Kriterien für eine Berücksichtigung bei kulturpreise.de nicht eingehalten wurden, ist er (anders als in früheren Handbüchern) auf unserer Plattform gar nicht mehr gelistet worden.
Die Auseinandersetzungen um den ECHO werfen nun allerdings weitere Fragen auf, über die man reden sollte (und über die zum Glück aktuell diskutiert wird). Die wichtigste davon ist sicher die, ob es Schranken der Kunstfreiheit gibt oder geben sollte. Auch der ECHO-Beirat hatte sich mit diesem Thema beschäftigt, darüber aber wohl die Prüfung der Frage vernachlässigt, ob "widerliche Inhalte" mit einem Preis ausgezeichnet werden sollten, wie Olaf Zimmermann und Gabriele Schulz vom Deutschen Kulturrat zu Recht moniert haben. Die Bertelsmann Music Group Entertainment (BMG) nahm Kollegah und Farid Bang zunächst mit dem Hinweis in Schutz: "Wir nehmen Künstler und künstlerische Freiheit ernst, und wir sagen unseren Künstlern nicht, was ihre Texte enthalten sollten und was nicht" – widersprach sich dann aber selbst, als sie kurz darauf die weitere Zusammenarbeit mit den beiden Rappern aufkündigte.
Sicher, Künstler und Künstlerinnen dürfen Grenzen überschreiten, unerhörte Dinge aussprechen, gesellschaftliche Tabus brechen. Sie müssen sogar solche Grenzen überschreiten können, wenn dies für ihre künstlerische Wahrheitsfindung erforderlich ist. Die norwegische Initiative Fritt Ort und das Netzwerk Freemuse hatten 2012 das Problem im Motto ihres Kongresses zur künstlerischen Freiheit provokativ so auf den Begriff gebracht: "ALL THAT IS BANNED IS DESIRED".
Andererseits haben spätestens die WROCLAW COMMENTARIES zu Kultur und Menschrechten seit November 2016 eine weitgehende Übereinstimmung europäischer und internationaler Gerichte sowie juristischer Fachleute dahingehend belegt, dass man die verschiedenen Menschenrechte, darunter auch die Meinungs- und Ausdrucksfreiheit, nicht isoliert voneinander betrachten darf. So ist auch die Kunstfreiheit immer im Zusammenhang mit anderen Freiheits- und Schutzrechten zu beurteilen, darunter zum Beispiel die Religionsfreiheit, der Schutz der persönlichen Ehre oder das Verbot einer Diskriminierung aufgrund von Rasse, Geschlecht und weiteren Merkmalen. In entsprechenden Urteilen etwa des Europäischen Gerichtshofes für Menschrechte hat zwar die Freiheit von Künstlern oder Schriftstellern (inzwischen) einen hohen Rang, sie muss sich aber im Einzelfall gegenüber anderen Bestimmungen im System der Menschenrechte behaupten. Dabei ist die Menschenwürde vom Gerichtshof wiederholt als zentraler Maßstab für Grundrechtsabwägungen bezeichnet worden – genauso sieht es übrigens auch das deutsche Grundgesetz in Artikel 1.
Ohne mich bei der ebenfalls interessanten Frage aufzuhalten, ob Rapper "Kunst" machen – manche sehen hier ja viel eher generationsspezifische soziale Ausdrucksformen – kann ich im aktuellen Konflikt wohl ausschließen, dass die Texte von Kollegah und Farid Bang nur ihrer Naivität geschuldet sind. Sollten sie gegen Recht und Gesetz verstoßen, wären Gerichte zuständig, für moralische Bedenken sind aber die Musiknutzer als letzte Instanz vorzuziehen. In einer Demokratie stößt die Kunstfreiheit mindestens dort an ihre Grenzen, wo spekulativ die Menschenwürde angegriffen wird, wo also tatsächliche oder vermeintliche Künstler/innen oder ihre Produktionsfirmen und Vertriebsmedien z.B. bewusst Hass gegen ethnische oder religiöse Minderheiten schüren, Frauen diskriminieren oder ein dumpfes, aggressives "Volksempfinden" mobilisieren wollen – und das keineswegs in künstlerischer Absicht, sondern nur um Kasse zu machen.
Ein beinahe tragisches Problem hat der ECHO-Skandal ebenfalls verdeutlicht: Unser Musikunterricht – wenn er denn regulär erfolgt – und vielleicht auch Verantwortliche in anderen Teilen des Systems der kulturellen Bildung müssen sich fragen lassen, ob sie Kinder und Jugendliche bisher hinreichend über spekulative Verletzungen der Menschenwürde durch kulturindustrielle Produkte aufklären bzw. dagegen immunisieren. Welche didaktischen Möglichkeiten und Instrumente es hier schon gibt und welche erst noch entwickelt werden müssen, sollte für Bildungspolitiker, Hochschulen und Akademien der Kulturellen Bildung jetzt ein ebenso so wichtiges Thema werden wie die Sorge um einen quantitativ ausreichenden Nachwuchs für die "Kreativwirtschaft".
Last not least: Das nun beschlossene Aus für den ECHO und die eingeleitete Findungsphase für ein neues Konzept sind sicher ein richtiger Schritt. Man kann nur hoffen, dass Qualitätsfragen in diesem Konzept eine größere Rolle spielen werden als bisher. Allerdings könnte der Skandal auch für einige andere Preis-Organisatoren Anlass sein, einmal wieder ernsthaft sowohl über angemessene Vergabeformen von Kulturpreisen wie über die Substanz oder Brisanz von Inhalten nachzudenken, die mit ihren "Awards" in der Öffentlichkeit propagiert werden.
Prof. Dr. Andreas Joh. Wiesand
(Herausgeber, Handbuch der Kulturpreise und www.kulturpreise.de)